Wenn ein Krankenwagen mit Blaulicht losfährt oder gar ein Rettungshubschrauber startet, bedeutet das: Notfall. Es kann aber auch bedeuten: Helikoptereltern im Ausnahmezustand. “Wir haben heutzutage immer mehr Einsätze wegen Bagatellverletzungen von Kindern oder wegen sehr aufgeregter Eltern, die völlig hilflos sind”, berichtet ein Rettungssanitäter.
Da wird schon mal wegen einer Schürfwunde ein Krankenwagen plus Hubschrauber gerufen, ernsthaft. Das kostet die Sanitäter und Notärzte Zeit und Nerven und alle viel Geld.
Überlastete Lebensretter: Wenn der Notfall kein Notfall ist
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Richtig gefährlich wird es aber, wenn Eltern dann andererseits vor lauter Sorge, Unwissenheit und Kontrollwut eine dringend notwendige Behandlung ihres Kindes verzögern oder gar verhindern – weil das Kind “keine Spritzen mag” oder keine Schmerzmittel bekommen soll.
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Ich muss mit auf Klassenfahrt – meine Tochter kann sonst nicht schlafen!
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“Generell sind Helikoptereltern bei einem Kindernotfall das Worst-Case-Szenario”, erzählt ein Sanitäter. Und eine Kinderchirurgin sagt: “Diese Eltern sind so anstrengend, dass sie mir manchmal die Kraft und Konzentration für die wirklichen Notfälle rauben.”
In dem neuen Buch “Ich muss mit auf Klassenfahrt – meine Tochter kann sonst nicht schlafen” der SPIEGEL-ONLINE-Redakteurinnen Lena Greiner und Carola Padtberg packen Hebammen, Erzieher, Lehrer, Sporttrainer, Professoren, Anwälte, Ärzte, Studienberater und Kinder aus, was sie mit übermotivierten Eltern erlebt haben.
Lesen Sie hier Buchauszüge aus dem Kapitel über den Helikopter-Wahnsinn in Notaufnahmen:
Helikoptereltern in der Notaufnahme
Eltern in Not
“Gegen 23 Uhr bekamen wir eine Notfallmeldung: Sechs Monate altes Kind mit Atemnot. Mit Blaulicht und Sirene fuhren wir hin. Als wir eintrafen, stand der Vater mit dem Kind auf dem Arm vor der Tür – es schlief. Dahinter die weinende Mutter. Auf die Frage, was passiert sei, antwortete der Vater: Das Kind habe einmal komisch gehustet. Alltag im Rettungsdienst.”
Alarmstimmung
“Wir wurden mit dem Rettungshubschrauber zu einem Einsatz geschickt: Kind, sechs Jahre, Kopfverletzung. Als wir landeten, waren auch schon Polizei, Rettungswagen und Voraushelfer da, mit uns waren insgesamt neun Helfer anwesend. Wir fanden ein verängstigtes Kind mit einer Schürfwunde vor, die schon nicht mehr blutete. Der Kleine war beim Spielen zu Hause an einer Tischkante hängen geblieben.
Wir stellten die Eltern zur Rede, und schließlich gaben sie zu, die Situation beim Notruf absichtlich überspitzt dargestellt zu haben, um ihrem Kind die ‘bestmögliche Behandlung, und zwar umgehend’ zukommen zu lassen. Die nächste Kinderklinik sei schließlich 20 Kilometer entfernt, und die Fahrt wäre unzumutbar gewesen. Konsequenzen für die Eltern: keine. Konsequenzen für die Allgemeinheit: vierstellige Kosten für die Krankenkasse und Blockade von drei Einsatzfahrzeugen und einem Rettungshubschrauber.”
Erschwerte Bedingungen
“Viele Eltern übertragen ihre eigene Angst auf ihr Kind. Wenn dieses dann schreit, uns tritt oder anspuckt, greifen sie jedoch nicht ein. Das ist doch verrückt.”
Ein Rettungsassistent erzählt:
“Diese Eltern sind leider eine der größten Herausforderungen in der Medizin. Eine Mutter wollte uns zwingen, die Funkgeräte und Telefone im Rettungswagen auszuschalten, da sich deren Strahlungen im Fahrzeug bündeln und einen Hirntumor verursachen könnten.”
“Sie hat so komisch geguckt”
“Ich habe schon viele absurde Fälle in der Notfallambulanz erlebt”, erzählt eine Kinderärztin. Einmal kamen im Hochsommer besorgte Eltern mit einem putzmunteren Kind, etwa vier Jahre alt:
Eltern: “Unsere Tochter hat einen halben Eiswürfel verschluckt!”
Ich: “Äh, der ist doch jetzt geschmolzen?”
Eltern: “Sie hat dabei so komisch geguckt, vielleicht war das ein Krampfanfall?”
Ich: “Hm. Wer schon mal ungewollt ein Bonbon oder einen großen Bissen verschluckt hat, kennt sicher dieses unangenehme Gefühl, wenn man merkt, wie es runterrutscht.”
Hilfe, Keime in der Nase
“Eine völlig aufgelöste Mutter kam mit ihrer siebenjährigen Tochter in unsere Klinik: ‘Meine Tochter braucht sofort einen Arzt! Es geht ihr ganz schlecht!’ Das Kind sah allerdings völlig gesund aus und stand etwas ratlos neben ihrer Mutter. Was war passiert? Das Mädchen hatte sich den Kopf einer Lego-Figur in die Nase gesteckt. Dann hatte sie etwa zwei Minuten lang geniest, ehe das Teil wieder aus der Nase geschossen kam. Die Begründung der Mutter, warum es der Tochter nun angeblich so schlecht gehe: ‘Haben Sie eine Ahnung, wie viele Keime auf diesem Ding gewesen sein können? Und die waren direkt in ihrer Nase!'”
Thorben und sein Ausschlag
“Eine Mutter möchte am Wochenende den Notdienst in Anspruch nehmen, weil ihr vierjähriger Sohn ‘so einen Ausschlag’ habe und ‘sofort’ behandelt werden müsse. Der Arzt hat die gute Nachricht, dass dieser kleine Ausschlag völlig harmlos ist und von allein abheilen wird. Es gebe zwar ein Medikament, sagt er, das er dem Kind spritzen könne, das würde allerdings die Heilungszeit so gut wie nicht beeinflussen, er würde deshalb davon abraten.
Daraufhin dreht die Mutter auf: ‘Mein Sohn muss behandelt werden, sofort. Er darf aber keine Spritze kriegen, weil ich nicht will, dass er Angst vor Nadeln bekommt. Es kann doch nicht sein, dass es das nicht als Creme gibt. Dann müssen Sie sich eben ein anderes Medikament ausdenken.’ Der Arzt teilt ihr dann mit, dass er das Medikament doch als Creme auftreiben konnte, und schmiert den Jungen mit etwas Nivea ein.”
Geht’s noch?
“Ein Vater kommt mit seinem vierjährigen Sohn in unsere Klinik, das Kind heult Rotz und Wasser. Der Vater: ‘Hallo! Mein Sohn hat eigentlich nichts Ernstes, er hat sich lediglich erschreckt, als er beim Mittagsschlaf von einem schlechten Traum aufgewacht ist. Er hörte aber nicht auf zu weinen. Also habe ich ihm damit gedroht, dass wir in die Klinik fahren, wenn er sich nicht beruhigt. Könnten Sie ihn nicht einfach ein bisschen untersuchen, damit er merkt, wie unangenehm das ist, und beim nächsten Mal nicht so ein Theater macht?'”
Eine Mutter erzählt:
“Meine jüngste Tochter hat leider eine schwere Form der Epilepsie. Einmal, da war sie ein halbes Jahr alt und krampfte akut, rannte ich mit ihr in die Notaufnahme. Der Arzt fing mich ab und wollte direkt mit uns auf die Station fahren. Eine andere Mutter mit einem offenbar gut gelaunten Kind versuchte jedoch, uns den Aufzug wegzuschnappen. Der Arzt bat sie, uns den Aufzug zu überlassen, da ein Notfall vorliege. Daraufhin meinte die Frau, ihr Kind müsse auch dringend auf Station, da sonst das Essen kalt würde. Der Arzt musste sie mit dem Hinweis aus dem Aufzug schmeißen, dass es hier um ein Leben gehe und nicht um warme Suppe.”
Trauma durch Ohrenarzt
In einer Klinik stellten sich nachts besorgte Eltern mit ihrem Sohn vor. Der Zweieinhalbjährige sei mit Ohrenschmerzen erwacht.
Ärztin: “Haben Sie ihm schon etwas gegen die Schmerzen gegeben?”
Eltern: “Nein! Wir wollten doch das Untersuchungsergebnis nicht verfälschen!”
Ärztin: “Gut, dann würden wir ihm jetzt als Erstes Ibuprofen geben. Das Ergebnis wird dadurch nicht verfälscht.”
Eltern: “Wie, jetzt hier, so einfach? Schmerzmittelsaft? Nein. Den mag er nämlich nicht. Den würden wir ihm dann gern zu Hause in seiner geschützten Umgebung verabreichen.”
Ärztin: “Gut, dann schaue ich mir jetzt mal beide Ohren an.”
Eltern: “Könnten Sie bitte in zehn Minuten noch mal wiederkommen? Wir würden ihn darauf gern etwas vorbereiten.”
Nach fünf Minuten teilten die Eltern mit, dass sie von der Untersuchung absehen möchten, da diese das Kind traumatisieren würde.
Eine Krankenschwester erzählt:
“Gern kommen Eltern zu uns, weil ihr Kind vor ein paar Stunden umgeknickt ist, sich den kleinen Zeh oder Finger gestoßen hat. Viele Ärzte röntgen dann – aber nicht, weil sie es für notwendig erachten, sondern weil sie Angst vor einer Klage haben. Mit ihrer Übervorsicht machen die Eltern auch das Personal verrückt. Einige bestehen sogar auf mehrere Röntgenbilder, was für kleine Kinder übrigens ungesund und schädigend sein kann. Einmal wollten Eltern, dass ihr Kind geröntgt wird, um eine Fraktur an der Wirbelsäule auszuschließen – weil das Kind gehustet hatte.”
Ich bin 24 – und ich muss mal!
“Ich arbeite in einer sehr großen Notaufnahme. Eines Abends kam ein 24-jähriger Patient mit seiner Freundin und seiner Mutter zu uns ins Krankenhaus, weil er Schmerzen beim Urinieren hatte. Als wir ihn ins Untersuchungszimmer baten, kamen seine Freundin und seine Mutter wie selbstverständlich mit. Auf den Hinweis, dass wir ihren Sohn gleich an seinem Penis untersuchen müssten und ob sie nicht draußen warten wolle, antwortete die Mutter, sie würde auf jeden Fall dabei sein. Schließlich wolle sie sehen, dass wir mit ihrem Jungen auch alles richtig machen, und für ihn da sein. Der Sohn nickte zustimmend. Dabei war es einfach nur ein Harnwegsinfekt, nichts, was einen 24-Jährigen auch nur annähernd in die Knie zwingt.”
Natürlich machen sich Eltern Sorgen, wenn ihr Kind gestürzt ist, blutet, schreit. Aber haben sie so wenig Urteilsvermögen für Verletzungen, dass sie einen einmaligen “komischen Husten” mit lebensbedrohlicher Atemnot verwechseln? Dreist sind auch die Eltern, die absichtlich spätabends oder nachts im Krankenhaus auftauchen mit der Begründung, dass sie ja tagsüber arbeiten würden.
“Ich glaube, viele Eltern haben keine Grundkenntnisse mehr über banale Erkrankungen”, sagt eine Ärztin. “Wer mit einem Kindergartenkind, das gespuckt oder seit einem Tag Fieber hat, in die Notaufnahme fährt statt am nächsten Tag zum Kinderarzt, muss mal aufgeklärt werden über tatsächliche Indikationen für einen Krankenhausbesuch.”
Wenn sich überfürsorgliche Eltern dann bei der Anmeldung im Krankenhaus vorstellen, geben die Mitarbeiter ihren ersten Eindruck häufig direkt an die behandelnden Ärzte oder Pfleger weiter. “Wir schicken ein Kind hoch, es hat nichts, aber die Eltern sind ängstlich und überfordert”, heißt es dann.
Kennen Sie Helikoptereltern? picture alliance / Bildagentur-o Vom Dinkelzwang bis zur Notenklage: Sind Sie Hebamme, Lehrer, Erzieher, Kinderarzt, Studienberater, Professor, Anwalt, Sporttrainer – oder Nachbar/Freund/Bekannter? Haben Eltern schon mal absurde Forderungen an Sie gestellt oder versucht, Sie auszuhorchen, zu beeinflussen oder einzuspannen – zum vermeintlichen Wohle der eigenen Kinder?
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lgr/cpa